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So funktioniert Genetik –
Eine kurze Reise durch Gegenwart und Zukunft.

Erkrankungen wie Brustkrebs, Diabetes, Herzfehler, Stoffwechselerkrankungen oder körperliche Deformationen liegen zu einem erheblichen Teil genetische Ursachen zugrunde. Mit humangenetischen Methoden lassen sich diese früher diagnostizieren, effektiver vorbeugen oder wirksamer lindern.

Die Genetik wird die Medizin der Zukunft nachhaltig prägen und verändern. Doch müssen wir gar nicht auf morgen warten, um ihren Nutzen zu erfahren. Denn bereits heute existieren eine Vielzahl an genetischen Verfahren zur Diagnostik, die gesetzlich und privat Versicherten zur Verfügung stehen. Um Ihnen einen Ein- und Ausblick zu geben, welche Möglichkeiten Gegenwart und Zukunft bereithalten, lassen Sie sich auf einen kurzen Parcours-Ritt durch die Welt der Genetik mitnehmen. Wie auf einer Bahnfahrt, deren Route Bahnhöfen folgt, reisen wir entlang zentraler Begriffe der genetischen Landkarte.

Das ABC der Genetik

Genetik bezeichnet die Wissenschaft, die sich mit den Gesetzmäßigkeiten der biologischen Vererbung und ihrer Merkmale beschäftigt. Sie geht den Mechanismen nach, die das Ergbut verändern und zu Erkrankungen führen. Genetische Veränderungen (Mutationen) können von Eltern geerbt werden oder auch neu entstehen. Sie stellen eine Art Gebrauchsanweisung für unsere Körper- und Zellfunktionen dar. Die Bestandteile der Gene befinden sich überwiegend im Zellkern der Körperzellen.

Gene gruppieren sich als kleine Abschnitte (Sequenzen) auf der DNA (Desoxyribonukleinsäure). Die DNA besteht aus einer Nukleinsäure mit besonders kleinen Molekülen. Sie befindet sich im Zellkern und organisiert sich in Form von zwei komplementären Strängen, die sich miteinander zu einer Doppelhelix verbinden. Jeder Strang setzt sich aus den vier chemischen Einheiten Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin (bei RNA: Uracil) zusammen. Um das Erbmaterial weiterzugeben, bilden sich aus jeweils zwei im Doppelstrang gegenüberliegenden Einheiten Basenpaare. Die Gesamtheit aller Basenpaare umfasst das Genom. Es beinhaltet die Gesamtheit der Erbanlagen. Zugleich enthält es eine Art Bauanleitung für den menschlichen Organismus.

DNA macht RNA, RNA macht Protein

Diese Bauanleitung gleicht einem genetischen Code, der einen automatisierten Plan mit Regeln folgt. Er realisiert sich in einem Prozess, den man Genexpression nennt. Der genetische Code bestimmt, ob ein Mensch mit braunen oder blonden Haaren, abstehenden oder angelegten Ohren, einen intakten oder beeinträchtigten Immunsystem zur Welt kommt. In einem ersten Schritt wandelt die Genexpression die DNA in RNA um (Transkription), indem sie seine Information auf einzelne RNA-Stränge überschreibt. In einem zweiten Schritt überführt die RNA die genetischen Informationen in Proteine, indem sie die Anordnung der Basen in eine neue Abfolge von Aminosäuren übersetzt (Translation). Diesen Prozess bezeichnet man als Proteinsynthese.

Proteine – Herz und Motor der Zellen

Proteine gewährleisten, dass die Zellen ihre Funktion erfüllen. Wie Arbeitspferde auf dem Acker, übernehmen sie einen Großteil der zellulären Aufgaben und halten diese am Laufen. Jede Zelle erfüllt eine unterschiedliche Aufgabe und enthält eine singuläre Mischung an Proteinen. Die Gene bestimmen, wie die Proteine und welche Proteine gebildet werden und welche Rolle sie übernehmen. Jedes Gen verantwortet die Produktion eines bestimmten Proteins. Durch Hinzufügen von chemischen Substanzen (Phosphate, Zucker, Lipide) lassen sich Proteine künstlich verändern. Zugleich können Gene die Funktionalität der Proteine beeinflussen und diese, wie einen Wasserhahn, an- oder aufdrehen. Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: Wie ein Computerchip, so enthalten auch Proteine einen vorgegebenen Leistungsumfang. Dieser lässt sich jedoch regulieren, verringern oder beeinflussen. Durch komplexe chemische Vorgänge und unter bestimmten Bedingungen blockieren manche Proteine die Transkription. Dadurch hindern sie die Gene, den Code so wie vorgesehen zur Anwendung zu bringen. So leisten sie der Entstehung von Krankheiten Vorschub.

Gene sind nicht unser Schicksal

Der genetische Code und die DNA stellen jedoch keine fertige, unabänderliche Blaupause dar, sondern sind Teil eines anpassungsfähigen Systems, das sich in Wechselwirkung mit den Einflüssen von Materie, Welt und Körper weiterentwickelt.

Genanalyse – der Schlüssel zum Erbgut

Die zentrale Methode, die Ärzte nutzen, um erbliche Krankheiten zu erforschen und zu diagnostizieren, bildet die Genanalyse. Sie hilft, den Ursachen von Entwicklungsstörungen, ungeklärten Erkrankungen, Fehlbildungen oder Tumorerkrankungen auf die Spur zu kommen. Mit ihr lassen sich auch genetische Dispositionen erkennen. Damit ist die individuelle Veranlagung gemeint, die manche Familien oder Familienmitglieder aufweisen, um bestimmte Erkrankungen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zu entwickeln oder zu vererben. Eine Genanalyse findet heraus, ob eine genetisch bedingte Anfälligkeit existiert, zu erkranken. In vielen Fällen – häufig in Kooperation mit anderen medizinischen Disziplinen – finden sich effektive Behandlungs- oder Vorsorgemaßnahmen.

Von Sequenzierung bis zur Exom-Analyse

Eine Analyse des gesamten Genoms erweist sich im Regelfall häufig als zu aufwendig. Deshalb kommen selektive Verfahren zur Anwendung, die sich auf bestimmte Fragen und DNA-Abschnitte konzentrieren und unterschiedliche Stufen der diagnostischen Tiefe bieten. Ein Instrument stellt die Sequenzierung dar. Mit Hilfe eines Computers analysiert sie die DNA-Sequenzen, auf denen man die Ursache der individuellen Symptome vermutet. Dazu bestimmt sie die individuelle Abfolge und Position der Basenpaare. Dadurch lassen sich Rückschlüsse über das Erbmaterial ziehen. Als Mittel der Wahl gilt das Hochdurchsatzsequencing (next generation sequencing). Dieses analysiert eine große Anzahl an DNA-Fragmenten nicht hintereinander, sondern parallel und gleichzeitig. Auf diese Weise macht es die Analyse schneller, kostengünstiger und effektiver als ältere Methoden. So fokussiert sich z. B. die Genpanel-Analyse auf die Untersuchung von bis zu mehreren hundert relevanter Krankheitsgene.

Nicht alles ist Information

Die gesamte DNA setzt sich zusammen aus Abschnitten, die Proteine codieren (Exons), und Abschnitten, die für die Proteinsynthese keine relevanten Informationen in sich tragen (Introns). Konzentriert man sich ausschließlich auf die codierenden Abschnitte, lässt sich die Analyse noch weiter beschleunigen und optimieren. Genau dies tut eine Exom-Analyse (whole exome sequencing). Jedes Exom weist ca. 40000 bis 50.000 Gen-Varianten auf. Filtert man mit einer Trio-Analyse unschädliche familiäre Varianten heraus, lässt sich die Zahl der zu untersuchenden Gene einschränken und auf wenige hundert reduzieren.

Ein Blick in die Zukunft

Genome Editing – dieses Schlagwort bringt ein zentrales Ziel auf den Punkt, das die genetische Forschung verfolgt. Seit Jahren entwickeln und verfeinern Wissenschaftler molekularbiologische Techniken wie CRISPR (Clustered regularly interspaced short palindromic repeats), um die DNA zielgerichtet zu verändern. CRISPR ermöglicht es, Gene in oder aus der DNA einzufügen, zu entfernen oder auszuschalten. Mit einer Genschere schneiden und bearbeiten die Forscher DNA-Abschnitte und fügen diese neu zusammen. CRISPR verwendet Enzyme wie CAS9, die Nukleinsäuren von DNA und RNA abbauen. Koppelt man CAS9 mit einer künstlich erzeugten RNA, identifiziert es festgelegte Abschnitte der Original-RNA und bindet sich an diese. Dadurch entstehen Doppelstrangbrüche, die bestimmte Aminogruppen abspalten (Desaminierung) und Teile der Zelle reparieren. Viele Musiker nutzen populäre Software wie Garage Band oder Logic, um Tonspuren aufzunehmen, zu bearbeiten, zu schneiden und neu zusammenzusetzen. Nach einem ähnlichen Prinzip verändert auch CRISPR/CAS9 einzelne Basen und bildet diese neu (base editing).

Chancen und Risiken

CRISPR steht in der öffentlichen Kritik, weil es ethische Probleme aufwirft und sich, skrupellos eingesetzt, zweckentfremden lässt – mit unabsehbaren Folgen. Zudem ist sein Einsatz in den meisten Ländern verboten, gesetzlich eingeschränkt oder ungeregelt. Aber sein potentieller Nutzen steht außerfrage. Auch existieren CRISPR und vergleichbare Verfahren bereits und stellen keine Fiktion dar. So liefern sie das Rüstzeug für visionäre Anwendungen wie die Keimbahntherapie. Diese bietet die Aussicht, bislang unheilbare Krankheiten wie Formen der fronttemporalen Demenz, Huntington‘sche Krankheit, vererblicher Brustkrebs, Thalassämie, Formen genetisch bedingter Epilepsie, Taubheit und Erblindung, Hämophilie oder Mukoviszidose effektiv zu behandeln. Sie beruht auf dem Gedanken, Fehlentwicklungen in Embryonen bereits im Frühstadium zu korrigieren, um potentielle Krankheitsrisiken zu eliminieren. Auch für somatische Gentherapien zur Behandlung von Hämophilie, Immundefekten, HIV, Leukämie, Muskelschwunde Erkrankungen, Sichelzellenanämie könnte sich CRISPR als hilfreich erweisen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Techniken setzt eine gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Zwecke, Ziele und Grenzen voraus. Diese Aufgabe erweist sich als umso dringlicher, je schneller der Forschung voranschreitet.